Eine kurze Geschichte zum nachdenken.
ALS ICH EIN kleines Mädchen war, war ich vollkommen vom Zirkus fasziniert, und am meisten
gefielen mir die Tiere. Vor allem der Elefant hatte es mir angetan. Wie
ich später erfuhr, ist er das Lieblingstier vieler Kinder. Während der
Zirkusvorstellung stellte das riesige Tier sein ungeheures Gewicht,
seine eindrucksvolle Größe und seine Kraft zur Schau. Nach der
Vorstellung aber und auch in der Zeit bis kurz vor seinem Auftritt blieb
der Ele fant immer am Fuß an einen
kleinen Pflock angekettet. Der Pflock war allerdings nichts weiter als
ein winziges Stück Holz, das kaum ein paar Zentimeter tief in der Erde
steckte. Und obwohl die Kette mächtig und schwer war, stand für mich
ganz außer Zweifel, daß ein Tier, das die Kraft hatte, einen Baum
mitsamt der Wurzel auszureißen, sich mit Leichtigkeit von einem solchen
Pflock befreien und fliehen konnte.
Dieses Rätsel beschäftigt mich bis heute.
Was hält ihn zurück?
Warum macht er sich nicht auf und davon?
Als Sechs- oder Siebenjährige vertraute ich noch auf die Weisheit der
Erwachsenen. Also fragte ich einen Lehrer, einen Vater oder Onkel nach
dem Rätsel des Elefanten. Einer von ihnen erklärte mir, der Elefant
mache sich nicht aus dem Staub, weil er dressiert sei.
Meine nächste Frage lag auf der Hand: »Und wenn er dressiert ist, warum muß er dann noch angekettet werden?«
Ich erinnere mich nicht, je eine schlüssige Antwort darauf bekommen zu haben. Mit der Zeit vergaß ich das Rätsel um den angeketteten Elefanten und erinnerte mich nur dann wieder daran, wenn ich auf andere Menschen traf, die sich dieselbe Frage irgendwann auch schon einmal gestellt hatten.
Vor einigen Jahren fand ich heraus, daß zu meinem Glück doch
schon jemand weise genug gewesen war, die Antwort auf die Frage zu
finden:
Der Zirkuselefant flieht nicht, weil er schon seit frühester Kindheit an einen solchen Pflock gekettet ist.
Ich schloß die Augen und stellte mir den wehrlosen neugeborenen
Elefanten am Pflock vor. Ich war mir sicher, daß er in diesem Moment
schubst, zieht und schwitzt und sich zu befreien versucht. Und trotz
aller Anstrengung gelingt es ihm nicht, weil dieser Pflock zu fest in
der Erde steckt.
Ich stellte mir vor, daß er erschöpft einschläft
und es am nächsten Tag gleich wieder probiert, und am nächsten Tag
wieder, und am nächsten … Bis eines Tages, eines für seine Zukunft
verhängnisvollen Tages, das Tier seine Ohnmacht akzeptiert und sich in
sein Schicksal fügt.
Dieser riesige, mächtige Elefant, den wir aus dem Zirkus kennen, flieht nicht, weil der Ärmste glaubt, daß er es nicht kann.
Allzu tief hat sich die Erinnerung daran, wie ohnmächtig er sich kurz
nach seiner Geburt gefühlt hat, in sein Gedächtnis eingebrannt.
Und das Schlimme dabei ist, daß er diese Erinnerung nie wieder ernsthaft hinterfragt hat.
Nie wieder hat er versucht, seine Kraft auf die Probe zu stellen.